Geformtes Licht
«Das Prinzip des Lichts ist das Entgegengesetzte der zu ihrer Einheit noch nicht aufgeschlossenen schweren Materie. Was man auch vom Licht sonst noch aussagen möge, so steht doch nicht zu leugnen, dass es absolut leicht, nicht schwer und Widerstand leistend, sondern die reine Identität mit sich und damit die reine Beziehung auf sich, die erste Idealität, das erste Selbst der Natur sei.»**
Mit ihren jüngsten Arbeiten scheint Christine Camenisch diesem Diktum G. W. F. Hegels (1770–1831) widersprechen zu wollen. Denn in ihnen wird Licht zum plastischen Material, das in zweifacher Hinsicht geformt wird. Erstens wird der gerichtete Lichtstrahl aus einem Diaprojektor durch das Einbringen eines präparierten Dias in eine einfache geometrische Form gebracht. Das dann auf der Wandfläche erscheinende Lichtfeld changiert irritierend zwischen zwei gegensätzlichen Phänomenen: demjenigen einer Wandöffnung (Tür oder Fenster, was auf einen Topos der Bildtheorie seit der Renaissance verweist) und demjenigen eines gewissermassen vor der Wand schwebenden, einfachen Objektes. Damit stehen ihre Arbeiten in der Nähe der konkreten und minimalistischen Kunst eines Michel Verjux oder Dan Flavin.
Die zweite Massnahme aber entfernt die Werke von diesen Positionen: Durch die Manipulation der Fokusautomatik wird das Licht zwar ein weiteres Mal wie plastisches Material geformt. Klare scharf begrenzte geometrische Formen geraten ins Schwingen, beginnen zu «atmen».
Dies stellt eine Weiterentwicklung von Arbeiten Camenischs wie beispielsweise Projektion1 von 1998 dar. Dort warf ein von der Decke herab pendelnder Diaprojektor einen Lichtkreis auf ein an die Wand gemaltes schwarzes Kreisfeld. Jedesmal wenn der Lichtkreis über die Grenzen des schwarzen Feldes ausschlug, bildete sich rechts bzw. links von diesem ein Kreissegment, das an eine Mondsichel gemahnte.
Ausgehend von dieser Grundkonstellation hat Camenisch in den folgenden Jahren ihr Instrumentarium und ihren Formenschatz erweitert.
So gelang es ihr in der Arbeit Blau. Projektion 10 von 2001/2002 durch die Manipulation der Fokusautomatik eines Diaprojektors nicht nur, das Unregelmässige der von Hand in Gang gesetzten Pendelbewegung früherer «Projektionen» zu überwinden. Durch das An- und Abschwellen des blauen Farbfeldes, das Scharf- und wieder Unscharfwerden seiner Ränder kamen Assoziationen mit den regelmässigen Rhythmen lebendiger Organismen ins Spiel. Und überdies wurde die Wand als Raumbegrenzung aufgelöst und ein Ausblick auf eine imaginäre Weite geöffnet.
In Projektion 12 und Projektion 13 von 2002 schliesslich führte der Einsatz mehrerer Diaprojektoren zu räumlichen Illusion perspektivisch gesehener Körper, die durch die Fokusverschiebung ihr Volumen und ihren Ort zu ändern schienen.
Es ist beeindruckend zu sehen, wie Christine Camenisch mit diesem minimalen Instrumentarium stets andersartige Wirkungen hervorruft, die konkrete, minimalistische und kinetische Vorbilder auf virtuose Art miteinander verschränken und weiterentwickeln.
Heinz Stahlhut
* (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Abschnitt: Die Romantischen Künste, aus der auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierten Ausgabe von Eva Moldenhauer und Markus Michel, Frankfurt/Main 1970, Bd. 15, S. 31.)